Aus der Diplomarbeit von Mag. Martina Glatz:
Österreichische Komponisten im Grenzbereich zwischen Neuer Musik und Jazz, Wien 2003, Seite 143ff
Bei meiner ersten telefonischen Kontaktaufnahme mit Werner Pirchner vor zwei Jahren war seine Krankheit bereits zu weit fortgeschritten, um ihm noch etwas von seiner verbleibenden Zeit und Kraft für ein persönliches Interview zu rauben.
Er schien bis zur letzten Minute ganz in seiner Arbeit aufzugehen, dennoch nahm er sich Zeit, mein Anliegen anzuhören, eines seiner Werke für meine Diplomarbeit auszuwählen und mir weiterführende Kontakte zu vermitteln. Außerdem nannte er mir seine wichtigsten zwei Leitsätze: »Eins, zwei, drei… die Kunst ist frei. – Und nun übersetzen Sie das ins Englische!« und »Die Gesetze in der Kunst machst du selber, wenn du kannst!«, legte mir das Anhören seines ersten Meisterwerks, des »halben Doppelalbums«, wärmstens ans Herz, und meinte, daß ich ohnehin in Bezug auf die Analyse seines Werkes »Wem gehört der Mensch…?« besser beraten sei, mich an Claus Christian Schuster zu wenden: »Meine Sprache ist die Musik. Meine Stücke analysieren sollen andere. Ich weiß eh, worum‘s da geht!« 1
Ich bin nicht sicher, was ich eigentlich erwartet hatte, aber irgendwie war ich ziemlich überrascht von meinem ersten, wenn auch flüchtigen Eindruck dieser Persönlichkeit. Wahrscheinlich hatte ich seinen überall enthaltenen Schmäh, der mich schon allein beim Durchlesen des Werkverzeichnisses zum Schmunzeln gebracht hatte, bei meinen ersten oberflächlichen Recherchen zu vordergründig und zu locker verstanden.
In diesem Telefonat jedenfalls lernte ich einen höchst ernsthaften Menschen mit großem Selbst- und Sendungsbewußtsein kennen, der von allen meinen ausgewählten Komponisten wohl am stärksten empfand, welchen Beitrag zur österreichischen Musikgeschichte er geleistet hatte und welches musikalische Erbe er hinterläßt.
Das mag natürlich mit seinem bevorstehenden Tod zusammengehangen haben, oder einfach eine Frage des Alters sein, aber es hat sicher auch mit dem Musikertypus zu tun: Werner Pirchner hat zwar als improvisierender Jazzmusiker begonnen, war aber offensichtlich immer schon ein Tüftler, und seine späteren Stücke für den Konzertsaal, insbesondere das für meine Besprechung ausgewählte Klaviertrio, sind Werkmusik im reinsten Sinn, penibel ausnotiert und für die Ewigkeit bestimmt.
Bei der Lektüre verschiedener Texte über und von ihm wurde mir nach und nach klar, wieso ich Werner Pirchners Witz zunächst nur oberflächlich nachvollziehen konnte. Er war in einer ganz anderen Generation und Region aufgewachsen, hatte als Kind noch die letzten Kriegsjahre miterlebt und war eben einfach ein typisches Tiroler Original: bodenständig, erdig, stur, mit ausgeprägtem Ehrgefühl und Gerechtigkeitssinn und knorrigem Humor.
»Ich bin in eine Welt hineingeboren, in der die Wertmaßstäbe alle total auf den Kopf gestellt worden sind, die natürlichen menschlichen Wertmaßstäbe, wo Millionen Menschen umgebracht worden sind, wo jede Woche Bomben gefallen sind, geschossen worden ist und so weiter. Und nach dem Krieg, wo erwachsene Lehrer Kinder geschlagen haben – vor so einer Welt hast du als Bub keine Achtung.« 2
Zur Musik hatte der Autodidakt einen »sehr unmittelbaren Zugang« 3, zwar voller Respekt vor den großen Meistern der Vergangenheit sowie der Gegenwart und sowohl der Klassik als auch des Jazz, jedoch abseits jeglicher Dogmen oder Strömungen und völlig unbeeindruckt von den Diskussionen über ernst oder unernst, alt oder neu. »Am Anfang hat er Akkordeon gespielt« 4, »das Klavierspielen brachte er sich mehr oder weniger selbst bei, indem er einfach auf den Klavieren in den einzelnen Gasthäusern probierte«, und auch das Vibraphon, ein Instrument, das ihn sehr faszinierte, war in seiner Jugend noch unerschwinglich für ihn: »Erst mit 19 Jahren war es ihm möglich, sich ein gebrauchtes Instrument […] anzuschaffen. Die Zeit bis dahin nutzte er, indem er in Musikgeschäfte ging und dort stundenlang die Instrumente ausprobierte.« 5
Während seiner Lehrlingsjahre als Schriftsetzer verdiente er sich nebenbei etwas Geld als Tanzmusiker und nützte seine Freizeit zum Abhören von Platten und zur Beschäftigung mit musiktheoretischen Schriften. Uli Scherer erzählte mir, daß er sich bei seiner Tätigkeit in der Schriftsetzerwerkstatt sogar »in jeder freien Minute am Klo eingesperrt [haben soll], um dort Schönbergs Harmonielehre zu lesen« 6.
»Ich hab nicht gewußt, daß Musiker ein Beruf ist. Ich habe immer gedacht, Musik ist einfach eine Freizeitbeschäftigung. Ich hab niemanden gekannt, der Musiker war« 7, erzählt der Tiroler Komponist Sonja Kirchmair für deren Diplomarbeit.
Sein Interesse galt zunächst vor allem dem Jazz, dieser Form des Musizierens, bei der »keiner anschafft, sondern jeder was zu reden hat« 8, und die damit verbundene Lebenshaltung verkörperte Freiheit für ihn: »Swing war einfach etwas total Unmilitärisches, und das hat mir schon genügt, daß ich verliebt war in Swing.« 9
Damals hat es in Österreich jedoch weder eine Jazzausbildung noch »so eine Jazzszene [wie heute] gegeben. Man hat eher Kommerz gespielt, und nur hie und da einen Auftritt gehabt.« 10 Somit waren solange, bis er als Vibraphonist des Oskar Klein Quartetts endgültig als Jazzmusiker Fuß fassen konnte, Werner Pirchners Auftritte in Tanzlokalen und Bars eben beeinflußt von der Musik, die ihn damals faszinierte – zeitgenössischem Jazz: Dizzy Gillespy, Miles Davis, Thelonius Monk etc. »Das Publikum war [allerdings] nicht gerade von der avantgardistischen Schlagermusik begeistert.« 11
Mit seinen ersten beiden Schlüsselwerken, der selbst produzierten LP »Ein halbes Doppelalbum«, die er später mit 17 Bonustracks als CD im Eigenverlag 12 neu auflegte, und dem Film »Der Untergang des Alpenlandes«, in dem teilweise Musik und Texte des halben Doppelalbums verarbeitet wurden, hat er sich vor allem in seiner Heimat auch nicht nur Freunde gemacht.
Die beißend sarkastische Abrechnung mit der Doppelmoral der Kirche und verschiedenster traditioneller regionaler Institutionen muß bittere Medizin für seine Landsleute gewesen sein, denen er damit einen allzu klaren Spiegel vorgehalten hat, jedoch hat er mit diesem gesellschaftskritischen Rundumschlag, der nicht nur in musikalischer Hinsicht sämtliche Grenzen überschritten hat, auch ganz begeisterte Kritiken geerntet und später die E-Musik-Szene auf sich aufmerksam gemacht.
Vermutlich hat er sich damit aber in erster Linie seine politischen Überzeugungen von der Seele geschrieben, um sich nach dieser »befreienden Wirkung« 13, alles gesagt und sich zu all diesen Themen geäußert zu haben, wieder auf neue Aufgaben konzentrieren zu können.
Eine weitere einschneidende Phase in Werner Pirchners Leben begann mit der Begegnung mit dem Gitarristen Harry Pepl. Dieser berichtet, daß ihm Freunde, als er 1975 auf der Suche nach einem weiteren Harmonieinstrument für sein damaliges Trio war, von »so einem lustigen Vibraphonspieler« 14 aus Tirol erzählten, er daraufhin Kontakt aufnahm und ihn zu einem Konzert einlud.
Die beiden haben sich »von der ersten Sekunde an so gut verstanden« 15, daß sie zu zweit weiter spielten, nachdem alle anderen nach den Probe längst gegangen waren. So bildeten sie zunächst ein Quartett und gründeten bald darauf das »JazzZwio«, mit dem sie unter anderem bei Austria Drei und beim Vienna Art Orchestra mitspielten, Schallplatten für das deutsche Label ECM aufnahmen und bei vielen internationalen Festivals auftraten.
Zehn Jahre lang waren die beiden musikalische Weggefährten, die »intensivst miteinander übten und spielten« 16, gemeinsam experimentierten, probierten, Akkorde und Rhythmen immer noch verdrehter zu spielen und dabei trotzdem perfekt zusammen zu bleiben, die einander »wesentliche Impulse« 17 gaben, und die sich national wie international nicht nur in Jazzkreisen großes Ansehen erwarben.
Dann wandte sich Werner Pirchner ganz dem Komponieren zu. War vor den 80er Jahren sein Komponistendasein hauptsächlich motiviert gewesen »vom unerschütterlichen Glauben an sich selbst«, war es danach vor allem geprägt vom »immer wieder ungläubigen Erstaunen darüber, in die Kunsttempel der abendländischen Musik Einlaß zu finden«.
Jahrelang hatte Werner Pirchner seine Musik gemacht, unabhängig davon, ob sich jemand dafür interessiert oder nicht, »lange standen den kompositorischen Erfolgen Ablehnung [und Absagen] gegenüber« 18, doch irgendwann wurden mehr und mehr Komponisten und Interpreten des E-Musik-Sektors auf das Tiroler Urvieh aufmerksam, empfanden ihn vermutlich als erfrischendes Enfant Terrible, unerwartet wurde er vermehrt in klassischem Konzertrahmen aufgeführt und bekam Kompositionsaufträge verschiedenster renommierter Musiker, Ensembles und Institutionen.
Nach anfänglichem ehrfürchtigem Zögern, in die Fußstapfen seiner großen Lehrmeister, Bach, Mozart, Schönberg etc. zu treten, stellte er sich schließlich den neuen Herausforderungen, und so hat sich »der zum Glück immer noch kindliche und im richtigen Moment auch kindische Berufsanarchist [nach und nach] zu Österreichs originellstem Haus- und Hofkomponisten emporgearbeitet« 19, bis ihn der ORF Auftrag, die Signations für Ö1 zu machen, ab dem 19. September 1994 zum »wohl meistgespielten und meistgehörten Komponist Österreichs« 20 machte.
Zuerst hatte er »nicht gedacht, daß klassische Musiker das interessiert, was ich im Kopf habe« 21, danach war er den Rest seines Lebens damit beschäftigt, »das, was in meinem Kopf ist, mit dem zusammenzubringen, was die spielen können« 22. Die Umstände seiner Arbeit und Aufführung haben sich zwar grundlegend geändert, doch Werner Pirchner ist »sich selbst treu geblieben« 23, er hat seine musikalischen Ideen zwar in anderer Form verarbeitet, sie sind dabei jedoch essentiell erhalten geblieben, und er hat »sehr viel von seinen eigenen Improvisationen in die Kompositionen einfließen […] lassen« 24.
Wahrscheinlich war seine Musik nicht zuletzt auch deshalb so »willkommene Nahrung für die E-Musiker« 25, weil man seinen Kompositionen anmerkt, daß sie nicht am Schreibtisch entstanden sind, sondern dem unmittelbaren musikalischen Zugang eines spielenden und hörenden Musikers entspringen, umbekümmert vom »Kunststreß« seiner Kollegen. Auf die Aussage Heinz Karl Grubers, die Avantgarde klinge bei allen gleich, soll Kurt Schwertsik daher einmal geantwortet haben: »Nur der Pirchner klingt anders.« 26
Diese Komponisten des Kreises rund um Schwertsik und Cerha haben den »privilegierten musikalischen Gelegenheitsarbeiter« nicht nur als erste in Wien gewissermaßen entdeckt, Werner Pirchner setzte auch musikalisch und hinsichtlich seiner Sprachkunst, sowie in Bezug auf seine künstlerische Haltung die Linie seiner Kollegen Zykan, Gruber und Schwertsik fort.
Der extravagante Grenzgänger, der »sich zu einer Zeit, als die Szene noch mit ganz anderen ästhetischen Problemen beschäftigt war, nicht die Frage gestellt [hatte], ob das, was er tut, neu ist, [der] immer schon »Bestehendes aufgegriffen [und] es auf eine höchst originelle, urig-bizarre Weise verfremdet« 27 hatte, reihte sich in die Tradition dieser neuen Kompositionsrichtung ein, die »nicht Webern weiter-zuvertonen« versuchte, sondern »sich nicht notwendigerweise der Harmonie, Melodie und dem Rhythmus verweigerte« 28 und Musik vor allem als Kommunikationsmedium verstand.
Jedoch ist zumindest im Fall Pirchners die Musik nicht oder nicht nur auf intellektuelles Verständnis, sondern »in ihren angestrebten Wirkungen direkt auf das Elementare im Menschen gerichtet, aber sie macht das auf eine Weise, die auch erfordert, daß der ganze Mensch von Kopf bis zu den Zehen daran teilnimmt« 29: »Die Grundlage des Komponierens müßten Ideen sein, aber um sie ausdrücken zu können, braucht man ein Handwerk. In einer guten Komposition soll – wie beim Menschen mit Körper, Geist und Seele – ein Dreieinigkeit vorkommen. […] Körper (in diesem Fall das Handwerkliche), Geist (der Einfall) und die Seele (das Feeling, der Ausdruck) bilden in diesem Werk eine Einheit.« 30
Ähnlich seinem langjährigen Zwio-Partner Harry Pepl, der ebenfalls »die seltene Gabe hat, alles, was er hört, unmittelbar in Musik zu übertragen und am Instrument umzusetzen« 31, ist auch bei Werner Pirchner die »Natürlichkeit und Direktheit des Zuganges zu anderer oder seiner eigenen Musik […] so entwickelt, daß er auf zusätzliche Kanäle der Kommunikation verzichten kann«. Deshalb ist »intellektuell über Musik zu sprechen, nicht [gerade] das, was er gerne tut. Er will die Musik durch sich selber sprechen lassen« 32: »Musik und das Erzählen darüber sind zwei verschiedene Dinge. Wenn man etwas sagen will, versucht man es zu sagen, wenn man etwas komponieren will, versucht man es zu komponieren.« 33