Zuerst erschienen in: Quart Heft für Kultur Tirol 22/2013, Haymon Verlag
Vor genau 40 Jahren veröffentlichte Werner Pirchner seine legendäre Debüt-Langspielplatte „Ein halbes Doppelalbum“. Quart bat nach 1973 geborene Musiker, Komponisten und Musikvermittler, die bis heute einflussreiche Scheibe wieder zu hören und radikal subjektive Hörnotizen zu verfertigen. In der Reihenfolge ihres Auftretens: Thomas Gansch, Matthias Schulz, Manuela Kerer, Johannes Maria Staud.
Von Thomas Gansch
Im Herbst 1988 nahm mich mein Bruder Hans zum ersten Mal mit zu einer Aufnahme. Das Ensemble Pro Brass spielte in Linz Teile von Werner Pirchners „Firewater-Music“ aus „Die drei Jahreszeiten“ für eine Schallplatte ein. Für mich als damals Zwölfjährigen war das die erste Begegnung mit dieser faszinierenden Musik sowie die – leider – einzige mit ihrem Komponisten.
Ich wusste nicht wirklich, wer dieser Mann mit den roten Haaren war, der da den ganzen Tag lang wild gestikulierend Anweisungen an die Kapelle gab, den Musikern erklärte, wie sie zu spielen hätten und wie schrecklich falsch alles sei.
Der war mir sofort suspekt! Ich war natürlich voll auf der Seite der Musiker und konnte nicht verstehen, warum der Typ so unzufrieden mit ihnen war, schließlich spielten die alle so gut, wie ich es zuvor noch nie gehört hatte. Was für ein gemeiner Kerl!
Die Leiden eines Komponisten waren mir damals noch weitgehend fremd und in der Retrospektive beurteile ich die Szene von damals naturgemäß anders.
Jedenfalls ging man nach der Arbeit zusammen in ein Wirtshaus zum Abendessen, wo ich am Nebentisch Zeuge wurde, wie W. P. begann, Anekdoten auszupacken, und ich weiß noch genau, wie beeindruckt ich war, als ich (bereits dem Jazz verfallen) ihn von Jack DeJohnette erzählen hörte und von Bobby McFerrin, dessen Hit „Don’t worry, be happy“ 1988 in Radio und Fernsehen rauf- und runtergespielt wurde.
Bei einer Autofahrt am Tag nach den Aufnahmen erklärte mir mein Bruder, wer W. P. ist, und erzählte mir begeistert dies und das, vor allem aber vom Halben Doppelalbum und im Speziellen vom „Bitte wenden“ am Ende der ersten Seite. „Ein halbes Doppelalbum“ habe ich selbst erst sehr spät das erste Mal gehört. Es war 2001. W. P. war gerade gestorben und wie das oft so ist, setzt man sich dann erst hin und hört sich die Sachen an, die man davor immer vor sich hergeschoben hat …
Im Halben Doppelalbum ist alles drin, was der Bewohner unseres katholischen Berglandes zur geistigen Gesundheit benötigt. Dieses unerhört gescheite, witzige und virtuose Kunstwerk von einer Platte ist mit nichts zu vergleichen, was ich je gehört habe. Ein Monument, das zweifellos bis heute großen Einfluss auf alle möglichen Menschen hat (Erzherzöge, Kleriker, Amtsorgane nebst Gattinnen und Konkubinen usw.)
Viele wichtige Fragen werden beantwortet, andere beantworten sich ganz einfach selbst – durch die Art und Weise, wie sie gestellt werden. Zum Beispiel: „Eine Frage, Herr Zensor: Welches Wort schockiert Sie mehr: ‚vögeln‘ oder ‚Hinrichtung‘?“
Auch die simple Erkenntnis, dass Blues und militärischer Befehlston nicht harmonieren, ist einer dieser Momente, die sich ins Gedächtnis einbrennen und fortan das eigene Denken bereichern. W. P. hat mit seinem Halben Doppelalbum etwas geschaffen, das in dieser Form seinesgleichen sucht, das einem Augen, Ohren und Geist öffnet. In der Art, wie er die Musik behandelt, vielleicht am ehesten Frank Zappa verwandt, im Ganzen jedoch vielschichtiger. Manchmal hat die Platte eine Dramaturgie wie eine Folge „Monty Python’s Flying Circus“, in ihren dunklen Momenten ist sie aber wesentlich böser oder vielleicht „österreichischer“, möglicherweise auch „tirolerischer“.
Hineininterpretieren kann man freilich viel, für mich ist das Halbe Doppelalbum vor allem eine Einladung zum Hören, Staunen und Selberdenken und ein in seiner Eigenständigkeit unerreichtes Meisterwerk. Ein frühes Meisterwerk, dem noch einige folgen sollten.
Außerdem ist W. P. für mich der unverwechselbarste, authentischste und damit wichtigste österreichische Komponist der letzten 50 Jahre geworden. „Ausgezeichnet gwendet, sauber sag ich, meine Hochachtung!“
*
Von Matthias Schulz
Erstaunlich: 40 Jahre nach der Entstehung und Erstveröffentlichung (im Eigenverlag auf Schallplatte herausgebracht; wobei die Produktion damals von André Heller mit ATS 15.000 unterstützt wurde) eine CD in der Hand zu halten, deren Inhalte sich so extensiv im heimatlichen Kontext von Werner Pirchner bewegen, wirft die Frage auf, ob man das überhaupt außerhalb von Österreich, Tirol verstehen kann. Das wunderbare Kolorit ist allerdings unbedingt notwendig für die CD, und man muss keineswegs Tiroler oder Österreicher sein, um das zu verstehen.
Aktuell: Nach dem Slogan der FPÖ bei der Innsbrucker Kommunalwahl im Frühjahr 2012 „Heimatliebe statt Marokkaner-Diebe“ wäre diese CD Werner Pirchners als zwangsweise beglückende Dauerberieselung in allen Supermärkten eben dort sehr passend gewesen, mit dem erwünschten Effekt, aus dumpfer Selbstgenügsamkeit und angepasster Gemütlichkeit aufzurütteln.
Aus heutiger Sicht kann dieses unentwegte Amoklaufen gegen jegliche Obrigkeit zunächst irritieren und es steht außer Frage, dass sich das aus einem konservativen, ländlichen und sehr patriarchalischen Umfeld heraus definiert, wobei Pirchner ganz besonders das katholische Umfeld zu beschäftigen scheint. Je mehr man sich aber in die Details dessen, was Pirchner aufzeigt, vertieft, umso mehr weicht diese Irritation einem lustvollen Mit-Hinterfragen und wirkt umso aktueller.
Unmittelbar: Diese Musik geht in den Bauch, breitet sich dort unbehaglich aus und ruft doch – durch ein Gefühl des Aufgewecktwordenseins – Behagen hervor. Kreativste Klangeffekte, unterschiedlichste musikalische Einflüsse, der musikalische Einsatz von Worten und Wortspielen, all das bildet einen Klangteppich, der sich collageartig vor einem ausbreitet. Es wirkt unmittelbar, manches geht in den Bauch; ist vielschichtig, umfasst viele Ebenen, die sich teilweise schräg anordnen, zusammenfinden. Am Ende ergibt alles einen Sinn.
Pur: Die Energie, das offene kreative Potenzial von Werner Pirchner, kommt immer zum Ausdruck: in den Kompositionen, Arrangements, den sich oft Jandl nähernden Texten. Es setzt sich in der von Pirchner gestalteten, in Handschrift gesetzten und in Illustrationen auslaufenden CD, in Booklet und Cover fort – Werner Pirchner pur.
Selten: Egal, welchen Track man wählt, ist man erstaunt, so etwas überhaupt auf einer CD zu finden; keine Nummer ist länger als drei Minuten, sowohl die Anzahl als auch die Kürze der Tracks sind außergewöhnlich. Man kann die CD nicht wirklich klassifizieren, einordnen – vielleicht passt der Begriff Synästhesie am besten. Sinneswahrnehmungen geraten jedenfalls durcheinander. Pirchner mixt Stile und Stilmittel, gibt bekannten Motiven bizarre Wendungen. Musik wird für reine Klangeffekte benutzt, analog meist auch die Sprache: von Cage bis Schubert, von Jazz bis Gregorianik, von Wiener Klassik bis Dadaismus. Alles mischt sich in beunruhigender, auf jeden Fall seltener Weise. Weil es sich als seltenes Gesamtkunstwerk zusammenfügt, ist es jedenfalls etwas für die Sammlung.
*
Von Manuela Kerer
„Ein halbes Doppelalbum“ auflegen.
Ein halbes Glas Wein einschenken.
Ein ganzes Blatt Papier nehmen.
Einen gespitzten Bleistift nehmen.
Schauen, was passiert.
Dämmrig.
Gute Laune.
Kein Kompromiss.
Schreibt, auf wos er grod Lust hot. Ober olbn mit Qualität.
Worn de Schmetterlinge olbn so laut?
NATÜRLICH NUR INNEN!
Schiane Stimme!
Subversiv.
Die Loade vergeat da do.
Aktuell. Na – extrem aktuell.
Wenn denksch: olls analog!
Guate Kombination!
Unglaublich, dass 40 Jahre alt.
Oanfoch guat gemocht!
Radikal.
???
Die jüdischen Nachbarn: Hosch an Vogel? Kirchenmusik? HAHA! Wia is übersetz, „verstian“ sie. Do gibs ober nix zu verstian!
*BROT*
OSCHPELE Manuela, jetz streng di holt un.
Mir kannt man a amoll spenden.
Guater Humor!
Hoila Werner Pirchner.
Es Erschte, wos i gedenkt hon, wie i Dei holbs Doppelalbum innigetun hon?
Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
Prutal schode. Dass i Di net kennengelernt hon. Wos moansch, wia mir a Hetz kop hettn. Oder holt i mit Dir sicher.
Des kimp mo long fir.
Sinnliche Erfahrung.
Nix krrr.
Trink an Schluck.
Pärig isch Dein Zeig.
Baut Sicherheit auf und zerschlägt dann alles.
Schick mir Deine Email-Adresse. Von do oben.
Nicht nur musikalisch.
So a Kas. Net des. Des. Des, wos i do schreib.
Ein Vibrato!
Ohohohohohohohohohohohohohohohohohohohoho!
WUAT klingt wia WUT und WORT auf Wienerisch.
Wo hot er des her?
Ober i muaß.
Das schönste gerollte „r“, das die Welt je gehört hat!
Des gfollt mo jetz ober wianiger.
Wie willschn des ins Hoachdeitsche bringen?
Genial!
Ein Selbstversuch ist die Erprobung eines neuen Verfahrens durch seinen Schöpfer an sich selbst. Selbstversuche werden meist in Situationen unternommen, in denen kein anderer Weg möglich erscheint, eine neue Erkenntnis zu erhalten. Des hett holt Hand und Fuaß. Muaß sell sein? Vielleicht loss is im Dialekt. Des versteat man schun.
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NOAMOL!
Wieso isch des net von mir?
Ober a bissl hosch schun a provozieren welln.
Rechts-links.
Kadenz.
Kennen des die Kastelruther Spotzn?
HAHA, i mog Di!
Erinnert mi an …
KURVE KRATZEN!
Methodisch-planmäßige Herbeiführung von [variablen] Umständen zum Zweck ihrer Beobachtung. Vergiss es.
Do hett der J. mitkropfn solln!
In Worte fassen? Das muss man hören! Fühlen!
Tudldudududldudu.
Stanley Kubrick.
Niamand hot bessere Titel!
Hot ihm des gfolln?
PUTEGA!
Sittiroul!
Berlusconi: Der hett Di inspiriert!
Stil.
Jo – wor nett!
GRIAN!
Isch des schun genua?
Die Schuach aus!
Tasch des 2013 gleich mochen?
Ungewöhnlich unmöglich.
Lässt sich nicht in Schublade drücken!
Schlog-Hosen.
Pirchner-Oper? Koane, oder?
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Kein halbes Glas Wein.
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Von Johannes Maria Staud
Gerade heute ist es wohltuend, Werner Pirchners erfrischend antipatriotisches Halbes Doppelalbum wieder zu hören; und zwar in einer Zeit, in der in Tirol endlich die grauenvollen Verstrickungen von Tiroler Komponisten in der NS-Zeit schonungslos aufgearbeitet werden und ohne biographische Schönfärberei ans Licht kommen. Aber nicht nur schlimme Nazis wie Josef Eduard Ploner oder Sepp Tanzer stilisierten ein verlogenes Tirolbild, auch unter anderen Tiroler Komponisten, quer durch alle Stilrichtungen, gehörte es lange zum guten Ton, sich auf patriotisch-tirolerische, älplerisch-verklärende Themen zu beziehen und dabei Volksmusik (die sich nicht wehren kann) zu zitieren, was das Zeug hält.
Pirchner liest dem „aufrechten“, verlogen-katholischen und intoleranten Tiroler sowohl mit seinem wirklich lustigen Film „Der Untergang des Alpenlandes“ als auch mit dem Halben Doppelalbum, aus dem auch Musik zum Film stammt, mit beißender Ironie gehörig die Leviten.
Überhaupt hört sich „Ein halbes Doppelalbum“ wie ein verschmitzter Rundumschlag eines satirischen Gesellschaftschronisten an. Wie Werner Pirchner etwa zu den Südtirol-Aktivisten und Bumsern stand (die gab es auch unter seinen Kollegen!), ist wunderbar am Lied „Ein Vorschlag zur unblutigen und dauernden Lösung eines Problems …“ abzulesen. Die Schützen kriegen im „Bundeslied der Traditionsvereine aller Länder“ ihr Fett ab. Die Tiroler Landeshymne wird kurzerhand umgedichtet und mit dem Titel „In dem Bestreben, edlere Werte als Heimat, Scholle und Vaterland zu besingen“ versehen. „Mein Gewissen erlaubt mir nicht …“ und „Lasset uns singen“ geht mit der blutigen Geschichte der Katholischen Kirche hart ins Gericht. Arbeitnehmer, die eine Unternehmerpartei wählen, würde Pirchner in „Das steinerne Gesicht“ am liebsten zu einer 96-Stunden-Woche verdonnern (wie aktuell das noch heute ist!). Darüber hinaus „erledigt“ Pirchner auch noch in der Esoterik sinnsuchende Hippies („Das Land der 1.000 Träume“), und politisch engagierte Menschen werden in „An die ungestümen Weltverbesserer“ zurechtgewiesen.
Dieses Lied erinnert mich übrigens an ein Gespräch, das ich mit Werner Pirchner im Jahr 2000, kurz nach der Angelobung der schwarz-blauen Regierung, geführt habe. Meine Empörung darüber quittierte er damals mit den – heute weisen – Worten: „Du hasch den Schüssel nit gwählt, i hab den Schüssel nit gwählt. Aber was megsch da machen? Da muasch warten, di gedulden, der fallt von alloan.“
Neben einigen mäßig lustigen ordinären Ausflügen („Lied über nicht gesellschaftsfähige Tätigkeiten“) findet sich aber auch das großartige, konzeptuell-originelle „Pause (for John Cage) & Söhö (for You)“ auf diesem Album – neben unzähligen anderen kleinen kabarettistischen Einlagen und Gustostückerln.
Musikalisch hinterlässt das Album jedoch heute einen recht zwiespältigen Eindruck. Richtig gut ist Pirchner da, wo er authentisch und voll Energie das Kraftfeld zwischen Jazz- und Artrock absteckt (irgendwo zwischen Miles Davis’ Agharta und frühen King-Crimson-Alben). „Wir haben ja unsere zwei Akkorde“, „Ein halbes Kilogramm Brot“, „Veatn zu Öschtern …“ können musikalisch überzeugen, weil sie authentisch sind und wirklich grooven – und das kann Pirchner unvergleichlich gut (wie auch im Zwio mit Harry Pepl).
Bei anderen Liedern offenbart sich aber ein Umstand, der beim später „klassisch“ komponierenden Pirchner noch öfter zum Problem werden sollte.
Seine musikalische Erfindungsgabe hält dem Vergleich mit seinem sarkastischen sprachlichen Humor nicht immer stand und wirkt manchmal kreuzbrav. Lieder wie „Wo das Büchserl knallt“, „Eisenkäppchen“, „Wer heutzutag nichts hat“ oder „Vor der Wahl“, „Nach der Wahl“ sind von der musikalischen Qualität her heute nur schwer zu ertragen. Dieses Stilkauderwelsch fischt überall, ohne selbst eine authentische, originelle und unverwechselbare Sprache zu finden. Er bleibt so irgendwo im postmodernen Nirvana, sprichwörtlich zwischen allen Stühlen hängen. Bemüht illustrative, holprig instrumentierte Montagen aus Zeichentrickfilm-Musik, Volksmusik, Blasmusik und Kirchenlied werden mit der damals bösen „Neuen Musik“ kombiniert; einer „Neuen Musik“, die sich anscheinend im Tirol der Siebziger Jahre sehr konventionell, aber mit vielen „falschen“ Noten versehen, gegeben hat, ohne eine spannende Syntax bzw. eine eigenständige harmonische und rhythmische Sprache anzubieten. Als Hörspielmusik oder Musik zu einem Kabarettprogramm funktioniert das natürlich gut – und als solche ist sie auch geschickt gemacht. Die Musik trägt trotz ihrer Schwächen (oder gerade deshalb?) auch Pirchners beißenden, grandiosen Humor, ohne ihm etwas Ebenbürtiges in den Weg zu legen. Sie illustriert ihn und legt ihm den Teppich.
„Ein halbes Doppelalbum“ ist und bleibt aus all diesen Gründen für die Tiroler Musik- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts richtungsweisend und einzigartig. Es anzuhören macht auch heute noch sehr viel Spaß.