Werner Pirchner im Interview von Othmar Costa: “Geboren in finsterer Zeit”

Die ersten Erinnerungen sind eigentlich, daß ich in der Kuchl gesessen bin und Musik gehört und gezeichnet hab – und meine Mutter gern mögen hab, also angenehme Erinnerungen. Unangenehm war, daß ich das Bewußtsein gehabt hab, daß Krieg ist und daß der Vater nicht da ist. Meine Mutter hat jeden Abend mit mir gebetet, daß er wieder gesund heimkommt und daß der Krieg bald aus ist.

Wir haben in einem Haus gewohnt, das war am Inn, südwestlich von Hall; es ist ganz allein gestanden, in der Nähe vom Verschubbahnhof. Da war ein zweites Gleis, wo die Nachschubtransporte für die sog. Italienfront abgewickelt worden sind, wenn das andere Gleis grad bombardiert war. Im Haus daneben, vielleicht 100 m entfernt, hat eine Frau mit ihrem Sohn gewohnt, der war taubstumm und geistig behindert. Das war der einzige mögliche Spielkamerad.

Vor dem Haus waren Kanonen, die Flak und Soldaten, die habn auf die Flugzeuge geschossen, die Flugzeuge haben Bomben geworfen, da war dauernd sowas los. Da waren noch russische Zwangsarbeiter, Frauen und Männer. Alle Bekannten meiner Mutter waren gegen die Nazi. Das hab ich mitgekriegt. Und ich hab auch von Anfang an gewußt, wenn wir einkaufen gegangen sind ins Geschäft, wo ich z.B. verschiedene Sachen nicht sagen darf, das hab ich gewußt, das haben sie mir gesagt. Die Situation – das war die totale Kafkapost. Ich hab das als Kind wirklich mitgekriegt: Es waren Leute, die gegen die Nazi waren, die hab ich mögen – und mit den andern haben wir eh nix geredet, vor denen haben wir Angst gehabt. Einen Nachbarn haben wir gehabt, der hat so einen Haß auf die Diktatur gehabt, der hat mir das irgendwie erklärt. Am 20. April hat jeder eine Fahne hinaushängen müssen; bei uns haben sie eine Hakenkreuzfahne hinausgehängt und eine weiße Fahne. Das war mir alles vielleicht so bewußt, weil ich viel allein war. Wenn meine Mutter arbeiten gegangen ist, hab ich halt Radio gehört, Musik.

Irgendwie haben wir gewußt, was los ist. Manchmal hat mich meine Mutter geschickt zu den Zwangsarbeitern mit einem Stückl Brot, wir haben ja selber nichts gehabt; die haben uns dann aus Altpapier Rosen gemacht zum Dank. Und die Soldaten von der Flak, die haben irgendwie eine Freud mit mir gehabt. Die haben in dem Haus gewohnt, wo der taubstumme Bub war. Mit dem haben sie überhaupt keine Freude gehabt. Das war ja kein »Vollwertdeutscher«.

Da bin ich einmal dazugekommen, wie sie die Zwangsarbeiter mit dem Gewehrkolben geschlagen haben; da war ich vielleicht dreieinhalb oder vier Jahre, da bin ich dagestanden und hab die Fäuste geballt und hab greart vor Haß, weil ich nichts tun hab können. Ich war wie angewurzelt. Ich hab dann mit den Soldaten nie mehr ein Wort geredet.